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Thursday, June 3, 2021

„Es wäre einfacher, Mitarbeiter in die Arbeitslosigkeit zu schicken“ - WELT

Der Abschied vom Verbrennungsmotor und die Digitalisierung der Automobilindustrie werden Deutschland nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich verändern. Es werde kaum zu vermeiden sein, „dass auch sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in der Automobilindustrie verloren gehen. Das ist vor allem deswegen bedauerlich, weil es Arbeitsplätze sind, mit denen man eine Familie ernähren kann“, sagt Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit, im Gespräch mit WELT.

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„Solche Arbeitsplätze, mit einem hohen Grad an betrieblicher Mitbestimmung und entsprechend hohen Löhnen, gehören zum sozialen Grundinventar der Bundesrepublik Deutschland. Wenn wir sie verlieren, ist das ein Verlust, der schwer wettzumachen ist.“ Die Jobs, die vor allem bei Zulieferunternehmen gestrichen werden, entstünden in anderen Branchen nicht ohne Weiteres neu.

Wie groß der Effekt für die Beschäftigten sein wird, kann der BA-Chef nicht beziffern. Klar ist aber, dass der Umbau der Industrie bereits angefangen hat. Angetrieben von den strengen CO2-Emissionsvorgaben der Europäischen Union bieten alle Autohersteller inzwischen reine Elektrofahrzeuge und Plug-in-Hybride an; sie werden in der offiziellen Statistik als emissionslos oder zumindest emissionsarm gewertet.

Quelle: Infografik WELT

Parallel zum noch sehr gut laufenden Geschäft mit Benzin- und Dieselfahrzeugen bauen BMW, Daimler und Volkswagen diese elektrischen Produktpaletten in den kommenden Jahren kräftig aus. Kurzfristig führt das zu doppelten Strukturen in der Industrie, mit positiven Beschäftigungseffekten – die sich längerfristig ins Gegenteil verkehren werden, wenn der Anteil der Verbrennungsmotoren sinkt.

Bei Volkswagen beispielsweise rechnet man bis 2030 mit einem Verbrenner-Anteil von nur noch 30 Prozent in Europa. BMW schätzt, dass bis dahin weltweit noch die Hälfte seiner Neufahrzeuge mit einem solchen Motor ausgestattet sein wird.

Dieser Wandel betrifft Hunderttausende Arbeitsplätze, auch über die Automobilindustrie hinaus. Das zeigt eine im Mai veröffentlichte Studie des Münchener Ifo-Instituts im Auftrag des Verbands der Automobilindustrie (VDA). Die Forscher Oliver Falck, Nina Czernich und Johannes Koenen beziffern die Zahl der Beschäftigten, deren Arbeit 2019 in Verbindung mit Verbrennungsmotoren stand, auf 613.000 Personen.

Quelle: Infografik WELT

Dazu zählen sie nicht nur die 447.000 Industriearbeiter, die Produkte wie Dieselmotoren, Abgasreinigungssysteme oder Auspufftöpfe herstellen, sondern auch ihre Kollegen, die beispielsweise Kraftstoffe in Raffinerien produzieren. „In der Automobilindustrie selbst hängt knapp jeder zweite Arbeitsplatz an der Verbrennertechnologie“, schreiben die Autoren. Derzeit sind in der Branche mehr als 800.000 Menschen beschäftigt.

„Die Herstellung eines Elektroautos benötigt weniger Arbeitskräfte, weil weniger Arbeitsschritte anfallen. Daher wird es auch Beschäftigte geben, die den Betrieb wahrscheinlich verlassen werden müssen“, sagt Scheele. Beim weltgrößten Zulieferer Bosch rechnet man damit, dass die Zahl der Arbeitsplätze für Diesel und Elektroantriebe im Verhältnis 10 zu 1 zueinander stehen.

Wenn künftig statt Diesel- nur noch Elektrofahrzeuge gebaut würden, bräuchte Bosch nach dieser Formel also 90 Prozent weniger Arbeiter, um Antriebskomponenten für die gleiche Anzahl von Fahrzeugen zu fertigen. Sofern diese Teile überhaupt noch vom Zulieferer hergestellt werden.

Quelle: Infografik WELT

Derzeit gliedern die Autohersteller nämlich viele Fertigungsschritte wieder ins eigene Unternehmen ein, die früher von Zulieferern erledigt wurden. Sie retten damit die Jobs ihrer eigenen Arbeiter auf Kosten ihrer Lieferanten – und sie stoßen in Geschäftsfelder vor, die deutsche Zulieferer links liegen lassen.

Beispiel Volkswagen: Der Konzern baut in Europa in den kommenden Jahren sechs Fabriken für Batteriezellen, die erste davon in Salzgitter – neben der bisherigen Fertigung von Verbrennungsmotoren. Beispiel BMW: Das Stammwerk München, bisher Herz der Fertigung von Verbrennungsmotoren, wird gerade zur Elektromotorenfabrik umgebaut, die Mitarbeiter umgeschult – und direkt in die neue Elektrowelt überführt.

„Die Automobilhersteller werden voraussichtlich weniger betroffen sein. In Unternehmen wie VW wird die Transformation mit internen Arbeitsplatzwechseln und Weiterbildungen vermutlich glimpflich ausgehen“, sagt Scheele. Außerdem hilft den Konzernen die Demografie; sehr viele Mitarbeiter werden in den kommenden Jahren in Rente gehen. „Aber bei kleineren Unternehmen, oft hochspezialisiert, sehen wir Probleme auf uns zukommen – da könnte eine spürbare Zahl an Arbeitsplätzen verloren gehen“, warnt Scheele.

Quelle: Infografik WELT

Doch auch bei den großen Konzernen sind die Auswirkungen des Wandels deutlich spürbar. Beispielsweise bei Continental. Der Reifen- und Zulieferkonzern aus Hannover, der als Nummer zwei der Branche gilt, hat seit Jahren Probleme und kämpft sich gerade zurück in die schwarzen Zahlen.

Die Reifenfabrik in Aachen soll im kommenden Jahr geschlossen werden, das Elektronikwerk in Karben wird bis 2025 massiv verkleinert. Ursprünglich sollte auch diese Fabrik geschlossen werden. Insgesamt spricht Conti-Personalchefin und -Vorstandsmitglied Ariane Reinhart von rund 20.000 Arbeitsplätzen, die bei Conti „verändert werden“ müssen. Wobei Veränderung auch Wegfall bedeuten kann.

Reinhart arbeitet seit Jahren daran, Kollegen intern weiterzubilden – für andere Jobs im Unternehmen und für den Arbeitsmarkt außerhalb. „Für uns wäre es einfacher, einen Sozialplan aufzulegen, Abfindungen zu bezahlen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Aber das ist nicht unser Verständnis. Wir betreiben einen hohen Aufwand, um Arbeitslosigkeit zu vermeiden“, sagt sie im Gespräch mit WELT.

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„Das sehen wir als unsere gesellschaftliche Verantwortung.“ Der Konzern hat dazu umfangreiche Programme aufgelegt, unter anderem am firmeneigenen Continental Institut für Technologie und Transformation. Dort können Mitarbeiter auch komplett neue Ausbildungen absolvieren. „Im Konzern haben wir rund 10.000 an- und ungelernte Mitarbeiter – das sind die ersten, die gefährdet sind und durchs Raster fallen können“, sagt Reinhart. „Um diese Menschen müssen wir uns besonders kümmern.“

Aber wo sollen die Industriearbeiter künftig neue Jobs finden? Besonders großen Personalbedarf hat Deutschland schon heute in vielen Handwerksberufen und in der Alten- und Krankenpflege. Die Engpässe dort wird man allein mit Umschulungen aber nicht beheben können, sagt Scheele voraus: „Wir haben jahrelang versucht, die Menschen sozusagen „vom Band ans Bett“ zu bekommen. Das geht im Einzelfall, ein Fachkräfte-Reservoir für die Pflege sind Industriebeschäftigte aber nicht.“

Dabei bildet Conti an seinem internen Institut künftig sogar Pflegekräfte aus. „Aber wir müssen natürlich sehen, wo diese Menschen eine gute Arbeit mit Perspektive bekommen. Die Engpassberufe müssen attraktiv gemacht werden, mit den entsprechenden Rahmenbedingungen und guter Bezahlung“, sagt Reinhart. Das gilt auch für Jobs im Handwerk oder der Logistik, die für Fabrikarbeiter wohl eher infrage kommen als ein Sozialberuf.

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Der BA-Chef macht das Problem konkreter: „Wenn jemand aus der Industrie kommt, kann er 4000 Euro brutto verdient haben, da muss man sich bei einem Wechsel ins Handwerk darüber unterhalten, wie man den Gehaltsunterschied ausgleicht“, sagt Scheele.

„Das kann beispielsweise über einen Sozialplan geschehen, der statt einer Abfindung die Gehälter im Übergang eine Zeit lang aufstockt.“ Reinhart hält für diesen Zweck auch Fonds für denkbar. Dass der Staat die Umschulungen zum Teil finanziert, etwa über das Qualifizierungschancengesetz des Bundes und die BA, ist für sie naheliegend.

„Continental alleine hat in den vergangenen Jahren Arbeitslosenbeiträge von 800 Millionen Euro bezahlt – da ist es aus meiner Sicht gerechtfertigt, wenn daraus Qualifikationsmaßnahmen finanziert werden für diejenigen, die das Unternehmen verlassen müssen“, sagt Reinhart. Conti habe unter anderem schon mehrere Hundert zu Elektrotechnikern umgeschult.

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„Für solche Spezialisten gibt es einen Bedarf. Unter anderem bei Tesla in Brandenburg – dahin sind schon die ersten Facharbeiter von uns vermittelt worden.“ Dass ihr Unternehmen damit letztlich auch für Konkurrenten ausbildet, sieht Reinhart nicht als Problem. Arbeitslosigkeit sei nicht nur gesellschaftlich, sondern auch volkswirtschaftlich die teuerste Alternative.

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