Herbst 2030. Eine Familie aus Hamburg will zum Wanderurlaub nach Berchtesgaden. Das Gepäck ist im Kofferraum des Wagens verstaut, jetzt noch schnell das Auto fit machen für die Urlaubsfahrt. Nach Bayern sind es fast 1000 Kilometer. Also gönnen sich Mama und Papa ausnahmsweise einen digitalen Chauffeur. Im Alltag sitzen sie ja ganz gern selbst am Steuer, aber den öden Autobahnmarathon überlassen sie lieber der Computersteuerung ihres Wagens, die man nach Bedarf zuschalten kann. Für das automatisierte Fahren bucht der Hersteller ihnen zwar ein paar Euro in der Stunde ab. Aber dafür kommt man abends erholt an, und die Eltern können unterwegs den neuen James-Bond-Film auf dem Cockpit-Bildschirm schauen.
Und dann natürlich noch die Speichererweiterung für die Batterie des Elektroautos: Das Urlaubsdomizil ist eine abgelegene Berghütte ohne eigene Wallbox zum Nachladen, da ist es beruhigend zu wissen, dass der Stromspeicher des Familienautos in der Urlaubswoche etwas mehr Kapazität hat als sonst. Auch die Extrareichweite kann mit ein paar Klicks der Smartphone-App des Herstellers spontan gebucht werden. Schon kann die Reise losgehen. Halt, eine Sache noch: Es soll schon recht kühl sein in den Bergen – also wird für die nächsten Tage auch noch eine Sitzheizung für die ganze Familie geordert.
„Tesla ist drei bis fünf Jahre voraus“
Den eigenen Wagen und seine Funktionen umbauen, mal eben so und je nach Anforderung, als würde man nur die Rücksitzbank umklappen – im Jahr 2021 klingt das noch nach Science-Fiction. Ingenieure, Informatiker und Marketingfachleute in der Autoindustrie tüfteln aber heute schon an genau solchen und vielen weiteren Angeboten. Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und die Vernetzung des Autos machen es möglich. „Wenn sich die Bedürfnisse des Kunden wandeln, dann wird sich auch das Auto wandeln können“, verspricht BMW-Vertriebsvorstand Pieter Nota. Und Alex Koster, Autoexperte beim Beratungshaus Boston Consulting in Zürich, ist sich sicher: „Das wird bei allen Herstellern kommen. Die Kunden werden je nach Bedarf Dinge wie Sitzheizung, zusätzliche Motorleistung und mehr Reichweite dazubuchen.“
Was für die Autofahrer, ob in Peking oder Potsdam, praktisch und bequem ist, das könnte für die Industrie zu einem gewaltigen neuen Markt werden. Softwaregestützte Umsätze oder auch „Function on Demand“ heißt dieses Zukunftsgeschäft im Jargon der Automanager. Sie glauben, dass es riesengroß wird. „Wir werden in den kommenden Jahren einen Software-Boom erleben“, sagt Harald Kröger, Mitglied der Konzerngeschäftsführung von Bosch, dem weltgrößten Autozulieferer.
Auch Volkswagen-Chef Herbert Diess wagte im Juli eine kühne Prognose: Die durch innovative Software ermöglichten Angebote könnten zum Ende des Jahrzehnts schon ein Drittel des Automarkts ausmachen und damit eine starke zweite Säule sein neben den traditionellen Erlösen aus der „Hardware“, also dem Automobilbau. 1,2 Billionen Dollar an Umsätzen werde es im Jahr 2030 global zu verteilen geben, sagte Diess auf dem Strategietag von VW.
Die Analysten der Schweizer Großbank UBS glauben sogar, dass noch mehr Milliarden drin sind in diesem neuen Megamarkt (siehe Grafik). So könnten die Hersteller etwa ins Geschäft mit Autoversicherungen einsteigen, weil moderne Fahrzeuge jede Menge Daten über das Fahrverhalten der Kunden sammeln, was wiederum bessere Rückschlüsse darauf zuließe, wie hoch ihr Unfallrisiko ist. Viele andere digitale Serviceleistungen rund ums Auto seien heute noch gar nicht absehbar, sagt Patrick Hummel, Autoanalyst der UBS in London. Er vergleicht die Entwicklung mit dem Smartphone: „Das ist so, als hätte man sich 2008 darüber unterhalten, was im Jahr 2021 alles im App-Store zu finden sein wird.“
„So etwas hat es in der Autoindustrie noch nie gegeben“
Wie sich die Autozukunft anfühlt – ein bisschen kann man das bereits kommende Woche in München ausprobieren. Auf der gerade von Frankfurt an die Isar umgezogenen Internationalen Automobilausstellung (IAA) präsentiert die Industrie eine Woche lang ihre Neuheiten. In Sachen Digitalisierung ist dabei Mercedes ein Coup geglückt: Die Schwaben haben die ersten Teilzeit-Roboter-Autos am Start. Die Luxusmodelle S-Klasse und EQS können demnächst zumindest in Deutschland auf der Autobahn selbständig unterwegs sein, während der Fahrer ein Buch zur Hand nimmt, im Internet surft oder Videos schaut. Der mit Elektroantrieb fahrende EQS hat dafür eigens einen futuristischen 1,40 Meter breiten Riesenbildschirm an Bord. Auf der IAA lässt Mercedes seine Hightech-Schlitten auf abgesperrten Fahrspuren autonom auch durch die Innenstadt rollen.
Die selbstfahrenden Autos aus Stuttgart sind gleich eine doppelte Überraschung: Einerseits ist Mercedes damit, noch vor dem amerikanischen Hightech-Rivalen Tesla, der erste Hersteller, dessen Autos im Alltagsbetrieb „Level 3“ auf der fünfstufigen Skala des autonomen Fahrens erreichen. Die zweite Überraschung: Neben viel eingebauter Digitaltechnik braucht es dafür auch die rechtliche Zulassung des Gesetzgebers – und ausgerechnet das als notorisch technologiefeindlich verschriene Deutschland hat als erstes Land den gesetzlichen Rahmen für diese nächste Stufe des autonomen Fahrens im normalen Straßenverkehr geschaffen. Nur deshalb darf der Computer-Chauffeur nun ans Steuer, auch wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit zunächst auf 60 Stundenkilometer beschränkt bleibt. Für Schnellfahrer ist die Technologie also vorerst nichts, wohl aber für Stau und sehr dichten Verkehr.
Die Anfänge mögen bescheiden sein. Doch Fachleute erwarten, dass die bevorstehende Digitalisierung zur größten technischen Revolution in der Geschichte des Automobils wird. Verglichen mit diesem enormen Technologiesprung sei sogar der Wechsel vom Verbrennungsmotor zum Elektroantrieb, der aktuell die Branche durcheinanderrüttelt, nur ein Hüpfer. „Das ist noch mal eine ganz andere Nummer. So etwas hat es in der Autoindustrie noch nie gegeben“, sagt Alex Koster von Boston Consulting. Einige Hersteller werden dabei unter die Räder kommen. „Die Software wird beim Auto in Zukunft so wichtig sein wie bisher der Motor“, erwartet Knut Krösche, Manager von Cariad, der neu gegründeten zentralen Software-Sparte von Volkswagen.
Erstaunliche Summen für Software-Dienste
Mit Cariad wollen die Wolfsburger den schwierigen Sprung ins Digitalzeitalter schaffen. Kein anderer europäischer Autohersteller wendet dafür so hohe Ressourcen auf wie VW. Aus gutem Grund, denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass die erhofften Riesenumsätze mit Software-Diensten in den Kassen der Hersteller landen: Wenn das Auto zum Computer auf Rädern wird, bietet das kapitalstarken Technologiekonzernen wie Amazon, Alphabet, Apple, Baidu und Huawei die Chance zum Einstieg. Die heimischen Autokonzerne müssten aufpassen, dass sie nicht zu einer „verlängerten Werkbank“ ausländischer Tech-Unternehmen würden, mahnte im Frühjahr selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die stolzen deutschen Autobauer dürften dann nur noch die fahrbaren Blechkisten für die Mobilitäts-Hightech aus Asien und Amerika liefern. „Das ist ein reales Szenario. Wir nehmen das sehr ernst“, sagt Cariad-Manager Krösche. Vor allem das Apple-Auto, über das seit Jahren spekuliert wird, fürchtet die Branche. Apple wäre ein direkter Konkurrent für die deutschen Premiumhersteller.
Um mithalten zu können, müssen die Autobauer binnen weniger Jahre deshalb auch zu Software-Schmieden werden. Verbündete dafür suchen sie in der Tech-Branche: Daimler kooperiert mit dem Chiphersteller Nvidia, Volkswagen und Ford haben in Argo AI investiert, einen Spezialisten für automatisiertes Fahren, der an der Digitaltechnik für Robotertaxis arbeitet. Schon 2025 will VW in Hamburg einen kommerziellen Fahrdienst starten. General Motors wiederum hat das Start-up Cruise übernommen.
Das Maß der Dinge ist aber immer noch Tesla. Mercedes mag zur IAA mit seinem Autopiloten die Nase vorn haben, doch insgesamt gilt das Unternehmen von Elon Musk als Tech-Spitzenreiter. „Tesla ist den traditionellen Herstellern in Sachen Digitalisierung um drei bis fünf Jahre voraus“, schätzt UBS-Autoanalyst Patrick Hummel. Auch deshalb ist Tesla an der Börse mit gut 620 Milliarden Euro derzeit mehr als doppelt so viel wert wie BMW, Daimler und VW zusammen: Die Investoren sehen das Unternehmen nicht als einen Industriebetrieb, sondern als Technologiekonzern mit angegliederter Autofabrik.
„Tesla wird der erste Autohersteller, der mehr Geld mit Software verdient als mit Autos“, sagt Hummel voraus. In wenigen Jahren könne es so weit sein. Das klingt ziemlich wild, doch schon heute sind zumindest Tesla-Kunden bereit, erstaunliche Summen für Software-Dienste zu bezahlen. Das Unternehmen bietet seinen Kunden seit dem Sommer ein elektronisches Fahrassistenzsystem auch im Abonnement an und verlangt dafür stolze 199 Dollar im Monat, obwohl dessen Fähigkeiten bisher noch weit entfernt von wirklich automatisiertem Fahren sind. Die UBS schätzt, dass dennoch jeder siebte Tesla-Kunde in der westlichen Welt den Pseudo-Autopiloten geordert hat. Auch in der Wolfsburger Volkswagen-Zentrale basteln sie an neuen Geschäftsmodellen, die erst durch Digitaltechnik möglich werden: Dinge wie eben die Autobatterie, deren Speicherkapazität die Nutzer via Smartphone-App vorübergehend erweitern können. Oder der digitale Autopilot, der je nach Bedarf gebucht werden kann.
Wo Elon Musk mal wieder Vorreiter ist
Realität werden soll der Teilzeit-Computerchauffeur in fünf Jahren. Für 2026 hat VW das „Projekt Trinity“ angekündigt: eine elektrisch angetriebene Limousine, die „Level 4“ des autonomen Fahrens erreicht, also über einen deutlich schlaueren Autopiloten verfügt als die Mercedes-S-Klasse diesen Herbst auf der IAA. „Die Kosten für das automatisierte Fahren könnten für die Kunden zwischen 7 und 10 Euro pro Stunde betragen“, prognostiziert Klaus Zellmer, Vertriebsvorstand für die Marke VW.
Und wie soll das mit der Batterie funktionieren, die dem Fahrer eines Elektroautos mal mehr, mal weniger Reichweite ermöglicht? Technisch sei das keine Hexerei, sagt Zellmer. Der Wagen ist zum Beispiel mit einer Batterie ausgerüstet, die 100 Kilowattstunden Speicherkapazität hat, doch im Normalbetrieb sind davon nur 75 Kilowattstunden freigeschaltet. Wer vorübergehend auch das restliche Viertel der Batterie braucht, wird extra zur Kasse gebeten.
Was der VW-Vertriebschef als „interessante Idee“ bezeichnet, werden viele Autobesitzer dagegen wohl eher für eine Unverschämtheit halten: Schließlich gehört ihnen ja das Auto und damit auch die Batterie. Warum sollen sie dann extra zahlen, wenn sie diese auch voll nutzen wollen? Andererseits: Rund sechs von zehn Neuwagen, die VW in Deutschland absetzt, sind heute Leasingfahrzeuge, der Nutzer ist also nicht Eigentümer, sondern bezahlt eine Art Abogebühr. Warum sollte die nicht variabel sein, je nachdem wie viel Mobilität der Autofahrer gerade benötigt?
Bisher entscheidet der Kunde beim Kauf oder Abschluss des Leasingvertrags, welche Ausstattung sein Wagen haben soll. In Zukunft dagegen könnte der Hersteller schon mal quasi auf Vorrat alle mögliche Technik-Hardware einbauen – von der Sitzheizung bis zur extragroßen Batterie. Vorreiter ist wieder mal Elon Musk: Tesla liefert nach eigenen Angaben bereits heute alle Neuwagen serienmäßig mit der notwendigen Hardware für das autonome Fahren aus, etwa mit Kameras und Sensoren – und schafft damit die Voraussetzung, um in Zukunft noch viel mehr Abonnements für das autonome Fahren verkaufen zu können als heute. Dann nämlich, wenn die Programmierer auch die Software so weit perfektioniert haben, dass das Auto wirklich von allein fährt – und die Eltern auf dem Weg nach Bayern James Bond schauen können.
Jetzt beginnt die digitale Autozukunft - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung
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