Als Hans-Georg Pusch Scrum-Master wird, ist er 56 Jahre alt. Nach mehr als 15 Jahren als Projektleiter bei der Gothaer Versicherung beginnt für ihn 2018 bei seinem alten Unternehmen ein neues Kapitel seiner Karriere. „In der Vergangenheit war ich als Projektmanager für alles verantwortlich“, sagt Pusch. Eigentlich ist er zufrieden mit seinem Job, trifft als klassischer Projektmanager gerne Entscheidungen. Doch als er von Scrum hört, packt ihn die Neugier. Sein Team soll wichtige Entscheidungen selbst treffen, er Verantwortung abgeben. Es ist eine ganz neue Definition seiner Rolle. Pusch lernt loszulassen.
Die Hauptaufgabe eines Scrum-Masters ist sein Team zu befähigen, sich selbst zu organisieren. Anders als klassische Führungskräfte schreibt ein Scrum-Master nicht vor, wie es arbeiten soll. Er will das volle Potential jedes Team-Mitgliedes nutzen, indem er sie Entscheidungen selbst treffen lässt.
Christian Mertens ist Personalentwickler bei der Gothaer. Er hilft Mitarbeitern wie Hans-Georg Pusch dabei, sich zu orientieren und ihre ersten Schritte mit Scrum zu machen. Er glaubt, dass ein Unternehmen Scrum nur effektiv einsetzen kann, wenn sich interne Kräfte mit der Methode auskennen. „Natürlich kann man bei der Gothaer als Scrum-Master Karriere machen“, sagt er. Vor allem als Coach können Mitarbeiter ihre Erfahrungen an Scrum-Neulinge weitergeben. Für ihn sind agile Methoden wie Scrum mehr als ein vorübergehender HR-Hype: „Die Rolle der klassischen Führungskraft befindet sich in der Auflösung“, beobachtet Mertens.
Regelmäßige Termine, klare Strukturen
Keine klassischen Führungskräfte, keine Anweisungen? Das hört sich nach mehr Freiheit oder, im schlimmsten Fall, nach Chaos an. Tatsächlich gibt der Scrum-Ansatz aber einen sehr geregelten Ablauf vor, mit regelmäßigen Terminen und klaren Strukturen.
In der klassischen Produktentwicklung wird meist eine lange Liste an Anforderungen gesammelt. Große Entwicklerteams basteln über Jahre an Produktmodellen. Manche Unternehmen bekommen bei der Entwicklung ihrer Produkte erst in der Testphase eine Rückmeldung, da sind oft schon Millionen in die Entwicklung geflossen. Wenn das Unternehmen das Produkt auf den Markt bringt, ist das Ergebnis oft enttäuschend.
Die Agile-Philosophie hat einen ganz anderen Ansatz: Agile Arbeitsmethoden geben Teams die Möglichkeit, Projekte flexibel zu planen und auf unvorhergesehene Anforderungen und Probleme zu reagieren. Scrum ist dabei nur eine von Dutzenden Methoden – aber eine der am häufigsten angewendeten.
Das Wort Scrum ist eine Analogie und bezeichnet eine Formation im Rugby. Wer sich diesen Sport im Fernsehen anschaut, dem fällt schnell eine Eng gedrängte Aufstellung von Spielern auf. Um den Ball, oder im Fall eines Unternehmens das Produkt, voranzutreiben, müssen Spieler eng zusammenarbeiten und in einer ruckhaften Kraftanstrengung gemeinsam gegen Widerstände ankommen.
In Scrum sind diese Hauruck-Aktionen Entwicklungsrunden, sogenannte Sprints, nach denen das Team vorläufige Versionen eines Produktes liefert. Zusammen mit den Kunden schauen sich die Entwickler die Ergebnisse an und ziehen ihre Schlüsse für die nächste Entwicklungsrunde. So können früh wichtige Änderungen vorgenommen und Fehlentwicklungen korrigiert werden. Je offener das Team bei der Produktentwicklung ist und je weniger das Team weiß, wie es entwickeln soll, desto eher ist Scrum dafür geeignet.
Eine Umfrage der Hochschule Koblenz bei fast 150 Unternehmen ergab, dass agile Methoden doppelt so häufig zu einer Erfolgsquote von 90 bis 100 Prozent führten wie klassische Methoden. Agile Methode versuchen früher zu klären, was der Kunde wirklich benötigt. Die Zusammenarbeit mit dem Kunden ist deswegen so wichtig, weil dieser oft selbst nicht genau weiß, was seine Bedürfnisse sind.
Für Pusch begann seine Begeisterung bei einem Schnupperkurs in der Scrum Academy in Köln bei Sohrab Salimi. Der ausgebildete Mediziner wurde über Umwege zum Scrum-Coach. Seit zehn Jahren bringt Salimi Menschen agile Methoden bei.
Scrum setzte sich nach der Jahrtausendwende bei großen Tech-Unternehmen durch, ist aber mittlerweile in allen Branchen angekommen. Die meisten Teilnehmer in den Kursen von Sohrab Salimi arbeiten bei Unternehmen, die Produkte mit Scrum entwickeln wollen. Vertreter aus unterschiedlichsten Branchen sind dabei: von privaten Fernsehsendern, Versicherungen, IT-Unternehmen, bekannten Automobilherstellern oder großen Finanzunternehmen.
Langjährige Mitarbeiter als Scrum-Master – wenn sie wollen
Sohrab Salimi bringt nicht nur seinen Kursteilnehmern Scrum bei, sondern begleitet außerdem ganze Unternehmen bei ihren ersten Schritten im agilen Projektmanagement. Salimi begleitete auch die 200 Jahre alte Gothaer Versicherung bei ihren ersten Schritten mit agilen Methoden.
Beim Umsatteln auf agile Methoden rät Salimi Unternehmen davon ab, ihren Bedarf an Scrum-Mastern durch neue Kräfte zu decken. Er glaubt, dass unabhängig von Alter und Vorerfahrung mit agilen Methoden langjährige Mitarbeiter gute Scrum-Master werden können. Sie sind in ihren Unternehmen meist gut vernetzt, verstehen das Geschäft und genießen das Vertrauen der Führungsebene. „Sie müssen es natürlich wollen. Man kann keine Mitarbeiter gegen ihren Willen in eine neue Rolle bringen und erwarten, dass sie ihre Rolle gut ausfüllen. Aber man kann ihnen das Angebot machen“, meint Salimi. Der Einstieg in Scrum sei gerade für Erfahrene eine große Chance. Hans-Georg Pusch hat diese Chance genutzt.
Aber die Angebote stoßen nicht immer auf Begeisterung. „Das geht häufig damit einher, dass Leute, die vorher viele Entscheidungen treffen durften, plötzlich nicht mehr die Entscheidungsträger sind“, sagt Sohrab Salimi. Denn ein Scrum-Master hilft seinem Team, eine grobe Vision für ein Produkt zu finden, und erinnert sie an die Scrum-Regeln, wenn sie sich nicht daran halten.
Er gibt keine Anweisungen und verhält sich eher wie ein Coach. Gerade Menschen in Führungspositionen entscheiden, ob Scrum zum Einsatz kommt. Sie müssen Vertrauen in ihre Mitarbeiter haben, wenn sie ihre Rolle als letzte Instanz aufgeben.
Bessere Expertise als der Chef
Danach richtet sich auch Christian Mertens’ Ansatz: Er lässt die Mitarbeiter selbst entscheiden, ob sie mit Scrum arbeiten möchten. Sie sollen für sich selbst entdecken, wie Scrum ihre Arbeit verbessern kann. Mitarbeiter seien in den letzten Jahrzehnten deutlich kompetenter geworden und hätten bei konkreten Fragen oft eine viel bessere Expertise als ihr Chef, meint Mertens.
Um zertifizierte Scrum-Master zu werden, legen Teilnehmer nach dem Kurs eine standardisierte Prüfung in Form eines Multiple-Choice-Tests ab. Für Scrum gibt es unzählige Kursanbieter. Die meisten bieten Zertifizierungen von den zwei großen Scrum-Institutionen ScrumAlliance und Scrum.org an. In regelmäßigen Abständen überprüfen diese Organisationen, ob Anbieter ihre Qualitätsansprüche einhalten und die Kursinhalte korrekt an die Teilnehmer vermitteln. Dabei gilt die Zertifizierung von Scrum.org (Professional Scrum-Master) lebenslänglich, die von ScrumAlliance (Certified Scrum-Master) muss alle zwei Jahre von Teilnehmern erneuert werden. Zwei Tage Kurs kosten rund 1300 Euro, drei Tage 1900 Euro.
Ein seriöser Anbieter sei nicht immer leicht zu erkennen, meint Recruiter und Scrum-Master Arne Adrian von Pawlik-Recruiters. Wenn die Kurse sehr günstig seien, könne das ein Zeichen von mangelnder Qualität sein. „Wir haben uns immer Anbieter gesucht, die in der Nähe der Unternehmen waren und die Referenzen mit vergangenen Projekten vorweisen konnten. Oder die in Kooperationen mit Hochschulen, Fachhochschulen und anderen Bildungsträgern stehen“, meint der Vorsitzende des Fachverbandes Personalberatung im Bundesverband Deutscher Unternehmensberater.
Für ihn spielen agile Arbeitsmethoden eine immer wichtigere Rolle. Dabei könne die Methode fast jedem nützlich sein. „Überall da, wo Prozesse laufen, wo Menschen sich miteinander abstimmen müssen, kann das sehr sinnvoll sein. Das würde ich auch einem Arzt empfehlen oder einem Stationsleiter eines Krankenhauses“, meint Adrian. „Wenn man dann das Gefühl hat, dass es zu einem und seinem Job passt, dann kann man ja einen Kurs machen.“
Es muss nicht gleich die Scrum-Weiterbildung sein
Adrian empfiehlt jedem, der sich für die Methode interessiert, sich erst einmal damit auseinanderzusetzen. „Das muss für mich nicht unbedingt gleich die Scrum-Weiterbildung sein“, meint der Scrum-Master. Man könne sich auch erst einmal ein paar Video-Tutorials anschauen oder sich einen Podcast dazu anhören, Material dazu gäbe es genug.
Arne Adrian vermittelt überwiegend spezielle Positionen oder Führungspositionen in Unternehmen. „Dass Mitarbeiter sich in einem agilen Arbeitsumfeld zurechtfinden, ist für viele Unternehmen sehr wichtig geworden“, meint er. Laut einer Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Projektmanagement liegt das Durchschnittsgehalt eines zertifizierten Scrum-Masters (mit ScrumAlliance) bei 8500 Euro im Monat.
Mittlerweile hat Hans-Georg Pusch die Prüfung zum Certified-Scrum-Master-Professional bestanden, die höchste Zertifizierungsstufe der Scrum-Alliance. Sowohl für ihn wie auch für Mertens bedeutet die Zertifizierung jedoch eher wenig: „In Deutschland gibt es oft die Vorstellung, dass eine Ausbildung einen direkt zu etwas macht. Aber das widerspricht dem Prinzip der Agilität“, findet Christian Mertens. Ein guter Scrum-Master werde man durch jahrelange Erfahrung und nicht durch einen Ankreuztest.
Die Erfahrung macht auch Hans-Georg Pusch in seinen ersten Monaten als Scrum-Master. In der ersten Phase übte er testweise mit einem Team zu arbeiten: „Den Sinn und Zweck von Scrum kann man nur wirklich verstehen, wenn man es selbst ausprobiert.“
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