Zu Beginn der vertieften Sondierungsverhandlungen in Berlin fordern 69 deutsche Großkonzerne von der neuen Bundesregierung den massiven Ausbau von Wind- und Solarparks – und einen schnelleren Kohleausstieg als bisher geplant.
»Der Ausbau der erneuerbaren Energien wie auch der erforderlichen Stromnetze muss […] massiv beschleunigt werden«, heißt es in dem Appell, den unter anderem die Otto Group, die Allianz, Rossmann, SAP, EnBW und E.on unterzeichnet haben. »Bis 2030 müssen mindestens 70 Prozent des steigenden deutschen Stromverbrauchs durch erneuerbare Energien gedeckt werden.« Bisher sind es weniger als 50 Prozent. »Die installierte Kapazität von Windkraft an Land und auf See sowie Photovoltaik muss dafür nahezu verdreifacht werden.«
Hierfür müssten ausreichend Flächen für neue Kraftwerksparks bereitgestellt und bestehende Anlagen nachgerüstet werden, fordern die Unterzeichner in dem Schreiben, das von der Unternehmerinitiative »Stiftung 2 Grad« initiiert wurde. Es soll an diesem Montag veröffentlicht werden und lag dem SPIEGEL vorab vor. Zusammen mit anderen Maßnahmen könne man so »gezielt die Voraussetzungen für einen Ausstieg aus der Kohleverstromung deutlich vor 2038 […] schaffen«, heißt es.
Mit ihrem Appell versuchen die Konzerne, von Anfang an Einfluss auf die Klimapolitik der neuen Regierung zu nehmen – und die oft zögerlichen Politiker zum Handeln zu drängen. So brauche die deutsche Wirtschaft nun »dringend ein umfassendes und konkretes klimapolitisches Maßnahmenprogramm«, steht in dem Schreiben.
Um das Klimaschutzziel für das Jahr 2030 von 65 Prozent weniger Treibhausgasemissionen als 1990 noch zu erreichen, müsse die neue Koalition in ihren ersten 100 Tagen eine »Umsetzungsoffensive für Klimaneutralität« vorlegen – sowie eine »klimafreundliche Reform des Steuern-, Abgaben- und Umlagesystems auf den Weg bringen«.
Klare Rahmenbedingungen verlangt
Die Konzerne machen der Politik aus Eigeninteresse Druck. Sie wollen schnell klare Rahmenbedingungen haben, entlang derer sie ihre Strategien ausrichten können. Viele erhoffen sich auch neue Geschäfte beim Umbau der Wirtschaft.
So heißt es in dem Schreiben unter anderem: »Der Ausbau von Schlüsseltechnologien und Infrastrukturen für das Erreichen der Klimaneutralität darf nicht durch langwierige und umständliche Planungs- und Genehmigungsverfahren ausgebremst werden.« Oder: »Öffentliche Finanzmittel müssen verstärkt genutzt werden, um privates Kapital für Investitionen in klimaneutrale Zukunftstechnologien zu mobilisieren.«
Zwar verlangen die Verfasser, die CO2-Bepreisung müsse »weiterentwickelt und gestärkt« werden. Im Gegenzug müssten aber auch Unternehmen und Verbraucher bei den Stromkosten deutlich entlastet werden. Seit Sommer 2020 haben sich die Preise für Elektrizität an Europas Großhandelsmärkten mehr als verdoppelt. Eine Reihe von Versorgern haben deshalb bereits ihre Tarife erhöht – oder planen, dies demnächst zu tun.
Die Kosten für Lizenzen zum CO2-Ausstoß im europäischen Emissionshandel haben sich in den vergangenen vier Jahren sogar in etwa versiebenfacht. Viele Industrieunternehmen fürchten nun Wettbewerbsnachteile gegenüber außereuropäischen Konkurrenten.
Wohl auch deshalb appellieren die Verfasser an die neue Bundesregierung, auf dem Weltklimagipfel in Glasgow im November und in der deutschen G7-Präsidentschaft 2022 einen »Klima-Vorreiter-Club« zu initiieren, der »die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen stärken und somit auch Carbon Leakage vorbeugen« solle. Carbon Leakage bedeutet, dass Betriebe wegen hoher Kosten für Klimaschutz ihre Produktion in Länder mit laxeren Auflagen verlegen.
Der Appell mit fast 70 unterstützenden deutschen Unternehmen aus allen Branchen dürfte der bislang größte und umfassendste Unternehmensappell für ambitionierten Klimaschutz sein, den es bisher in Deutschland gab. Zusammen erwirtschaften die Konzerne einen globalen Umsatz von rund einer Billion Euro und beschäftigen weltweit mehr als fünf Millionen Menschen.
Vor vertieften Sondierungen: Konzerne fordern von neuer Bundesregierung mehr Klimaschutz - DER SPIEGEL
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