Die Gaskrise offenbart die deutsche Abhängigkeit von fossiler Energie. Das Berliner Traditionsunternehmen Florida Eis hat mit seinem nachhaltigen Ansatz frühzeitig vorgesorgt - das zahlt sich jetzt aus.
Olaf Höhn macht sich Sorgen. Um den Krieg in der Ukraine, die Energiekrise, rechte Politiker. Und vor allem um die Umwelt. Aber der Chef von Florida Eis ist jemand, der die Dinge anpackt. Schon 1927 begann die Berliner Manufaktur Speiseeis herzustellen. Höhn übernahm das Geschäft in 1980er Jahren und expandierte. Rund 2000 Supermärkte in Berlin und Brandenburg bieten die charakteristischen blauen Becher in ihren Tiefkühltruhen an. Denn Florida Eis weiß, sich zu vermarkten. Statt ein angestaubtes Traditionsimage zu pflegen, erweckt das Unternehmen den Anschein eines hippen Startups. Der Eishersteller legt Wert auf Regionalität, Handarbeit und vor allem: Klimafreundlichkeit.
"Als ich angefangen habe, mich mit Klimaschutz auseinanderzusetzen, haben viele gesagt: Lass mal!", erinnert sich Höhn im Gespräch mit ntv.de. Vor über zehn Jahren habe sein Sohn ihn für das Thema sensibilisiert. Trotz, oder vielleicht auch wegen der anfänglichen Widerstände war Höhns Ehrgeiz geweckt. Wie ernst der 72-Jährige es meint, zeigt die 2013 im Berliner Bezirk Spandau errichtete Fabrik, die als erste in Deutschland vollständig klimaneutrales Eis produziert.
Zufrieden gibt Höhn sich damit nicht. Er tüftelt weiter, verwirklicht Ideen und verwirft sie wieder, investiert in neue Technologien. Auf dem in einem weitläufigen Industriegebiet gelegenen Produktionsgelände ist das nicht zu übersehen. Fotovoltaik-Anlagen pflastern die Dächer, ein Elektro-Lkw lädt an der Zapfsäule, vom Fußboden bis zum Schornstein ist hier alles danach ausgerichtet, möglichst umweltverträglich zu sein. Das hat seinen Preis. "Die ständigen Neuinvestitionen rechnen sich zunächst natürlich nicht", gesteht der Chef von rund 100 Mitarbeitenden. "Aber inzwischen sind wir sehr effizient, haben ein gutes Vertriebsergebnis." Der Umsatz betrug laut Höhn im vergangenen Jahr deutlich über zehn Millionen Euro.
"Der Markt ist verzerrt"
Auch wenn der Klimawandel im Bewusstsein der meisten Unternehmen angekommen sein mag: Verantwortung übernehmen wollen viele nicht. Dabei ist allein der Industriesektor der zweitgrößte Verursacher von Treibhausgasemission in Deutschland. "Im jetzigen System sind die Firmen, die auf klimaschützende Maßnahmen setzen, im Nachteil. Der Markt ist an der Stelle verzerrt, weil gar nicht die wahren Kosten abgebildet werden: Umweltschäden, Klimaschäden, Lieferketten", sagt Katharina Reuter ntv.de. Sie ist die Geschäftsführerin des Bundesverbands Nachhaltige Wirtschaft, der rund 600 Unternehmen vertritt. Wer sein Unternehmen nachhaltig ausrichten will, könne eben nicht nur nach der Gewinnmaximierung gehen - ein Wettbewerbsnachteil. Mitbewerber, die sich nicht um Umwelt und Menschenrechte kümmern, könnten ihre Produkte deutlich preiswerter anbieten, erläutert Reuter.
Anders gesagt: Klimaschutz hängt vor allem von der Bereitschaft der jeweiligen Firmenleitung ab. Wer ihn ernsthaft betreibt, muss dazu noch wirtschaftliche Einbußen in Kauf nehmen. Ausgerechnet die Gaskrise könnte nun ein Umdenken vorantreiben. Russland drosselt seine Lieferungen nach Deutschland immens, die Pipeline Nord Stream 1 ist nur zu 40 Prozent ausgelastet. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sah sich am Donnerstag gezwungen, die zweite Stufe seines Notfallplans auszurufen. "Gas ist ein knappes Gut in Deutschland", sagte Habeck. Die Abhängigkeit vom fossilen Energieträger droht Deutschland, um die Ohren zu fliegen.
Die Industrie spürt die explodierenden Gaspreise bereits. Anders als Florida Eis haben sich viele Unternehmen nicht um Alternativen gekümmert, darunter die Glasmanufaktur Harzkristall in Sachsen-Anhalt. Dort sind die Flammen des großen Gasofens erloschen. Denn damit Glas schmilzt, müsste der Ofen rund um die Uhr auf 1180 Grad laufen - pro Tag verbraucht er damit so viel wie ein Vier-Personen-Haushalt im Jahr. Das ist derzeit schlicht zu teuer. "Wenn ein großes Lampengefäß für eine Straßenlaterne vorher 150 Euro gekostet hat, soll es jetzt plötzlich 600 Euro kosten. Das ist am Markt nicht umsetzbar", sagt Unternehmensleiter Otto Sievers im RTL-Interview. Also werden Aufträge storniert. Genutzt wird nur noch der kleinere Elektroofen. "Und wir überlegen auch grundsätzlich, ob wir zukünftig lieber auf Elektroenergie setzen sollten." Eis-Unternehmer Höhn hingegen hat sich früh genug Gedanken gemacht.
Nachhaltigkeit wurde oft belächelt
"Wir sehen, dass es sich für Unternehmen, die schon frühzeitig die Energiewende vorangetrieben haben, rentiert", erläutert Reuter. "Die sind jetzt nicht so stark betroffen, einfach, weil sie schon Strom selbst erzeugen, eine intelligente Sektorkopplung mit E-Mobilität aufgebaut haben oder auf eine Pelletheizung setzten." Solche Investitionen seien vor einigen Jahren noch belächelt worden. Wenn Höhn von Begegnungen mit Unternehmer-Kollegen oder Industrievertretern berichtet, dann wird deutlich: So ganz ernst nehmen ihn viele bis heute nicht.
Höhn lässt sich von Kritik und Skepsis an seinen Vorhaben jedoch nicht beirren - mit Erfolg. 30 Prozent der Energie, die seine Fabrik benötigt, wird vor Ort produziert, der Rest speist sich aus Ökostrom. Das geht nur mit spezieller Technik. In der stromfressenden Kühlung werden sogenannte Adsorptionskälteanlagen eingesetzt. Sie wandeln die Abwärme der Kompressoren klimafreundlich in Kälte um. Ihr Ziel: Es soll so wenig Energie wie möglich aus der Produktionsstätte verloren gehen. Bei der Stromproduktion profitiert der Berliner Eishersteller von den saisonalen Schwankungen der Branche. Die Eis-Nachfrage steigt, wenn die Sonne scheint - dann laufen auch die Solarpanels auf Hochtouren.
Die Fahrzeugflotte wird nach und nach auf E-Mobilität umgestellt. Eine kleine Revolution ist dabei der elektrische Lkw, der das Eis mithilfe von Speicherkühlung ausliefert. An eine Station gekoppelt kühlt die Ladefläche des Lkw auf -78 Grad herunter, die Kälte wird nach dem Aufladen für bis zu zwei Tage gespeichert. Selbst am Schornstein der Pelletheizung ist ein zusätzlicher Feinstaubfilter angebracht. Die größte Emissions-Einsparung erfolgt aber über den Fußboden in der Tiefkühlzelle. Dieser wird mit Glasschaumschotter isoliert, sodass eine zusätzliche Beheizung wegfällt.
"Wir wollen bis zu 99 Prozent autark sein"
Nach eigenen Angaben konnte Florida Eis durch dieses technologische Zusammenspiel innerhalb von fünf Jahren über 1.800 Tonnen CO2 einsparen. Die Selbstversorgung bietet zudem eine gewisse Krisenfestigkeit. "Sogar wenn wir gar keinen Strom von außen mehr bekämen, könnten wir noch immer eine Zeit lang regional ausliefern", sagt Höhn. Aktuell werden die hohen Energiepreise durch das Speicher- und Kreislaufsystem abgefedert.
Das Konzept von Florida Eis findet immer mehr Nachahmer. Fast wöchentlich kommen Wirtschafts- und Politikvertreter aus der ganzen Welt zu Besuch im Berliner Westen. Denn Nachhaltigkeit ist nicht nur ein Marketingfaktor, sie wird gerade in Zeiten von "Alarmstufe Gas" essenziell. Innovative Konzepte haben Konjunktur.
In Magdeburg entsteht derzeit ein zweites Werk der mittelständische Eishersteller. Die Ambitionen sind hoch: "Wir wollen bis zu 99 Prozent autark sein, mindestens aber zu 85 Prozent", erklärt Höhn, der auch Vorbild für andere sein will. "Was wir machen, kann im Prinzip jeder. Aber wer baut schon einfach so seine bestehenden Maschinen ab."
Die Energiekrise könnte eine ökonomische Notwendigkeit dafür bieten. "Das Geld wurde in den letzten Jahren nicht in die Hand genommen, weil es sich nicht in einer kurzen Zeit von vier bis fünf Jahren gerechnet hat", erklärt Reuter. Inzwischen würden aber viele Unternehmen erkennen, dass Energie-Souveränität auch ein Sicherheitsthema ist. "Krisen zeigen, wie fragil das System ist. Wir beißen uns nun ziemlich in den Hintern, weil die Energiewende zuvor so ausgebremst wurde. Das ist jetzt ein Weckruf für alle."
Erst belächelt, jetzt Vorbild: Berliner Eishersteller trotzt dem Gasnotstand - n-tv NACHRICHTEN
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