In wenigen Wochen ist Finnlands bisher größter Atomreaktor voll hochgefahren. Olkiluoto 3 soll das Land von Stromimporten aus Russland unabhängig machen. Andere europäische Länder hegen ähnliche Träume von Atomkraft als Lösung in der Energiekrise. Sie haben aber alle denselben Haken.
Der Kontrast könnte kaum größer sein: Während in Deutschland über Sinn und Zweck von Atomkraft als Unterstützung in der Energiekrise gestritten wird, schwelgt Finnland in Vorfreude auf den Vollbetrieb seines neuen Kernkraftwerks in Olkiluoto. Finnland ist pro Atomkraft. Sogar die Grünen sind von der Atomenergie als Übergangstechnologie überzeugt. Insgesamt gibt es fünf Reaktoren in zwei Atomkraftwerken - Loviisa und Olkiluoto. Die Kernenergie deckte 2020 insgesamt etwa 20 Prozent des Energieverbrauchs für die 5,5 Millionen Einwohner.
Olkiluoto, an der Westküste Finnlands, ist das modernste und neueste Kernkraftwerk Europas. Die aktuelle Leistung des dritten Reaktors des AKWs, der sich noch in der Testphase befindet und seit Monaten langsam hochgefahren wird, liegt mittlerweile bei gut 60 Prozent. Rechtzeitig vor dem finnischen Winter soll er den Strommangel durch die weggefallenen russischen Importe kompensieren und Blackouts verhindern. Wie sehr die Zeit drängt, zeigte sich vergangene Woche: Der finnische Netzbetreiber Fingrid musste am Donnerstag zwei Notstromkraftwerke in Betrieb nehmen, um einen Stromausfall abzuwenden.
Erst am Freitag - mit einem Tag Verspätung - erreichte der Reaktor endlich die dringend erwartete Marke von 1000 Megawatt Leistung. Gibt es keine Zwischenfälle, ist die Maximalleistung von 1650 Megawatt Anfang kommenden Monats erreicht. Mitte Dezember soll die reguläre Stromproduktion beginnen, berichtet die Finanzagentur Bloomberg. Finnland kann es nicht erwarten.
Unabhängigkeit von Russland
Das Land hofft auf einen Befreiungsschlag in der Energiekrise. Finnland ist seit Langem auf Stromimporte von Nachbarn - hauptsächlich Russland und Schweden - angewiesen. Etwa ein Fünftel musste bislang importiert werden. Aus Russland stammte zuletzt die Hälfte davon. Im Mai, nach dem Einmarsch in die Ukraine, war Schluss damit. Russland stoppte die Lieferungen. Angesichts des Versorgungsengpasses warnte der finnische Netzbetreiber vor sogenannten rollenden Stromausfällen, bei denen die Belastung des Stromnetzes absichtlich reduziert und der Verbrauch eingeschränkt wird, bis eine Stromknappheit vorüber ist.
Solche Maßnahmen sollen sich durch den Atomstrom von Olkiluoto künftig erübrigen. Olkiluoto 3 wird der leistungsstärkste Reaktor Europas sein und allein 14 Prozent des finnischen Strombedarfs abdecken können. Finnland will damit nicht nur die stromhungrigen Industrien im eigenen Land am Laufen halten, sondern auch dazu beitragen, die anderen nordischen Volkswirtschaften in der Energiekrise zu entlasten. Strom soll dazu bezahlbar sein. Der Reaktor geht in Zeiten von Rekord-hohen Preisen ans Netz.
Auch dem Klimawandel soll etwas entgegengesetzt werden. Vizepräsident der Betreibergesellschaft TVO, Marjo Mustonen, sprach vergangenen Dezember bei Inbetriebnahme von Olkiluoto 3 von "Finnlands größtem Akt für das Klima". Kernreaktoren sind zwar enorm teuer, die Kosten für Olkiluoto 3 sind auf 6,4 Milliarden US-Dollar explodiert. Außerdem dauert der Bau von Reaktoren Jahre, dennoch sind sie eine zuverlässige Alternative zu Wind- und Solarparks und haben nur wenig CO2-Emissionen zur Folge.
Stimmungsumschwung in Europa
Auch anderswo in Europa gewinnt Atomenergie aus diesen Gründen an Popularität. Die EU stufte Atomkraft Anfang des Jahres trotz vieler Kritik und Bedenken als grüne Energie ein. Viele der heute weltweit über 200 im Bau oder in Planung befindlichen Kernkraftwerke gehören der sogenannten dritten Generation an und gelten als sicherer. In 13 der 27 EU-Staaten wird Atomenergie zur Stromproduktion genutzt und der Ausbau von Atomenergie vorangetrieben - um Klimaziele zu erreichen oder unabhängiger zu werden.
Russlands Krieg in der Ukraine und der russische Gas-Lieferstopp haben die Energieversorgung vor neue Herausforderungen gestellt und für einen Stimmungsumschwung gesorgt. Ausgerechnet in Deutschland - der Anti-Atomkraft-Nation- ist sogar der Ausstieg aus dem Atomausstieg plötzlich Thema. Wirtschaftsminister Robert Habeck verkündete am Montag, zwei der drei noch laufenden Atomkraftwerke zumindest als Notreserve zu halten und bis Frühjahr für die Stromversorgung bereitzustellen.
Eigentlich wollte man sich Ende dieses Jahres endgültig von der Atomenergie verabschieden. Die letzten drei AKWs sollten zum 31. Dezember vom Netz gehen. Die Frage, ob Deutschland ohne Kernkraft durch die Krise und vor allem durch den bevorstehenden Winter kommt, spaltet die Nation.
Über russisches Uran spricht man nicht
Zurecht. Nicht nur immer wiederkehrende Sicherheitsvorfälle - auch Olkiluoto 3 musste beispielsweise im Januar schnell runtergefahren werden -, sondern auch unkalkulierbare Kosten beim Bau der Reaktoren, zeigen: Atomkraft ist ein schwieriges Feld. Sicherheitsbedenken, die Gefahr einer Strahlenbelastung für Menschen und die Umwelt ebenso wie die Zurückhaltung bei den Investoren sind nicht wegzudiskutieren.
Der größere Haken in der aktuellen Energiekrise ist jedoch ein anderer: Anders als es scheint, macht Atomenergie nicht ganz so unabhängig und frei, wie es sich manche vielleicht wünschen. Auch die Finnen sind sich dessen bewusst. Sie stoppten dieses Jahr den Bau eines weiteren Atomkraftwerks unter Beteiligung des russischen Energiekonzerns Rosatom. Grund: Ein erheblicher Teil des Urans für die finnischen Atommeiler kommt aus Russland, dem Land, das die Ukraine angegriffen und die Energiekrise überhaupt ausgelöst hat.
Die Abhängigkeit von russischem Strom ist das eine, das andere die Abhängigkeit von russischem Uran. Im Vorjahr lieferte Russland rund ein Fünftel des Urans für Kernkraftwerke in ganz Europa. Uran steht nicht auf der Sanktionsliste der EU. In den USA sieht es nicht besser aus: Das Uran für 95 AKWs wird zu 99 Prozent importiert - vor allem aus Russland, Kasachstan und Usbekistan. Finnland will mit Atomstrom unabhängiger werden? Ganz so einfach ist das nicht.
Hoffnungsreaktor Olkiluoto 3: Finnen wollen mit Atomstrom unabhängig sein - und täuschen sich - n-tv NACHRICHTEN
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