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Saturday, July 30, 2022

Shoppen in der Krise: Der Wunsch nach ein bisschen Luxus - WELT

Für Handelsprofis ist der sogenannte Lippenstift-Effekt ein fester Begriff. Er beschreibt, etwas zugespitzt, das Phänomen, dass dekorative Kosmetik sich immer dann besonders gut verkauft, wenn Krisen sich ihrem düstersten Punkt nähern. Die Branchenweisheit bestätigt sich momentan eindrucksvoll. „Der Lippenstift-Effekt wirkt in Krisensituationen zuverlässig, auch jetzt“, sagte Jörg Simon, Chef des Teleshopping-Kanals 1-2-3.tv, gegenüber WELT. „Viele Kundinnen sagen sich: Es steckt zwar weniger Geld in meinem Portemonnaie, aber ich gönne mir noch mal etwas“, weiß er aus Erfahrung.

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Diese Jetzt-erst-recht-Haltung in Sachen Schönheit und Körperpflege erfasst Männer ebenfalls, wenn auch offenbar nicht mit derselben Intensität. So stieg der Gesamtumsatz von fünf Dutzend Anbietern unter dem Dach des Kosmetikverbandes VKE bereits im Krisenjahr 2021 insgesamt um 0,4 Prozent auf knapp zwei Milliarden Euro. „Damit liegt das Ergebnis über den ursprünglichen Erwartungen“, heißt es beim VKE.

Verantwortlich waren nicht nur Lippenstifte, sondern vor allem Parfums, auf die stets mehr als die Hälfte des Branchenumsatzes entfällt. Der Verkaufserlös der Männerdüfte kletterte mit plus 1,4 Prozent indes moderater als bei den Damendüften mit vergleichsweise fulminanten plus vier Prozent. Auch für die nächste Zukunft zeigte sich der VKE jüngst überraschend optimistisch, indem er ein kräftiges Wachstum des Branchenumsatzes um rund fünf Prozent für 2022 prognostizierte.

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Und das, obwohl in der Sparte der dekorativen Kosmetik kaum eine wirksamere Verkaufsbremse denkbar ist als die Gesichtsmaske: Ob medizinisch oder FFP2, schöne Lippen bleiben verborgen. Die Pandemie-Stopper waren im ersten Drittel des Jahres noch vielerorts Pflicht und könnten es wieder werden, sobald der Herbst kommt.

„Der kleine Luxus“ auch in Krisenzeiten

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Aber das Bedürfnis, sich noch einmal etwas Gutes zu leisten, bevor die Krise womöglich noch härter zuschlägt, sitzt offenbar tief. „Ich kaufe mir diesen Lippenstift, einfach, weil es mir guttut“, interpretiert Simon die Stimmungslage seiner Kundinnen: „Dasselbe gilt auch für Accessoires, für ein schönes Tuch, die lange begehrte Geldbörse, die attraktive Handtasche.“ Der Mann hat den Überblick, denn der Verkaufssender 1-2-3.tv aus Grünwald bei München macht einen Großteil seines Geschäfts mit Kosmetik, Mode und Heimausstattung.

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Schon früher hat sich gezeigt, dass wirtschaftlich schlechte Zeiten das Bedürfnis, als gepflegte Erscheinung wahrgenommen zu werden, eher beflügeln als dämpfen. Im Krisenjahr 2009 etwa konnte die Körperpflege- und Kosmetikbranche im allgemeinen Abschwung überraschend ihr Geschäftsniveau beibehalten, während dekorative Kosmetik sogar um fünf Prozent wuchs. Nur 16 Prozent der Frauen, berichtete die Marketing-Zeitschrift „Horizont“ seinerzeit, wollten bei Kosmetik sparen. Wenige Monate zuvor hatte der Lehman-Crash Währungen ins Wackeln und Finanzmärkte weltweit an den Rand des Zusammenbruchs gebracht.

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Doch der psychologische Effekt des Debakels war ähnlich wie heute. „Die Pflege des Körpers und die Verwendung von Make-up sind gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten für die Menschen der kleine Luxus, den sie sich auch weiterhin gönnen“, erklärte der Kosmetikkonzern L’Oréal vor über zehn Jahren – und klang fast wortgleich wie viele Marktkenner heute in einer Situation, in der die Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) im Juni mit minus 26,2 Indexpunkten ein historisches Tief ihres Konsumklimaindex vermelden musste.

Bei den Kaffeeautomaten ziehen Männer die Brieftasche

Doch auch die GfK destilliert aus ihren Daten Anzeichen für den Hang zum kleinen individuellen Luxus im Meer der ökonomischen Trübnis. Bei Kaffeevollautomaten etwa, heißt es in Nürnberg, seien im April zwar Rückgänge bei preiswerten Einstiegsgeräten zu verzeichnen gewesen. Höherpreisige Geräte dagegen seien stärker gefragt.

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Der durchschnittliche Verkaufspreis der Latte- und Cappuccino-Roboter lag laut GfK im April sogar acht Prozent über Vorjahresniveau. Es ist nicht vermessen zu vermuten, dass in diesem Fall eher Männer die Hauptrolle als Nachfrager spielten. „Geräte über 600 Euro verzeichneten bei Umsatz und Gerätemenge ein deutliches Plus“, vermelden die Daten-Sezierer.

Solche Ergebnisse scheinen dem Augenschein zu widersprechen, nach dem Schmalhans in Krisenzeiten generell Küchenmeister bei den Verbrauchern sei. Marktananalytiker der US-Firma Nielsen haben einen genaueren Blick auf die Kundengruppen geworfen und liefern einen Erklärungsansatz für die scheinbare Diskrepanz. Sie sehen eine „wirtschaftliche Polarisierung der Käufer“ durch die gegenwärtige Krise.

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Die Konsumenten teilen sie in vier große Gruppen ein: Solche, die bereits vor Ausbruch der Krise wirtschaftlich eingeschränkt gewesen seien. Solche, die sich neuerdings einschränken müssten. Ferner besonders vorsichtige Käufer. Und schließlich eine relativ große Gruppe, die keine Einschränkungen hinnehmen müsse. Dazu dürfte etwa der gesamte Sektor von Beamtenschaft und öffentlichem Dienst zählen, aber auch viele Mitarbeiter von Großkonzernen. Angehörige der beiden letzteren Gruppen seien bereit, auch jetzt „für höhere Qualität mehr zu zahlen“, heißt es in der Nielsen-Studie von Januar.

Künftiges Kaufverhalten nur schwer einzuschätzen

Auch der Grünwalder Verkaufssender profitiert von einem wirtschaftlich vergleichsweise stabilen Publikum. „Unsere Kundschaft besteht zu großen Teilen aus Babyboomern“, sagt Jörg Simon: „Auch wegen der Rentenerhöhung scheint deren Kaufzurückhaltung derzeit nicht so groß zu sein wie bei Jüngeren.“

Die Rentenzahlungen werden im Juli um 5,35 Prozent im Westen bzw. gut sechs Prozent im Osten erhöht. Dennoch spüre 1-2-3.tv die Anspannung in der Käuferschaft: Nahrungsmittel, Reinigungsartikel und Schönheitsprodukte verkauften sich zwar „kontinuierlich auf hohem Niveau“, doch in den übrigen Sparten sei das künftige Kaufverhalten nun schwer einzuschätzen.

Für den Verkaufssender sei dies teils ein Vorteil, da er mit seinen täglich wechselnden Angeboten flexibler als größere Ladenketten auf schwankendes Einkaufsverhalten reagieren könne. „Wir leisten uns derzeit gezielt den Mut zur Lücke, statt uns komplett mit Ware einzudecken“, sagte Simon.

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Für die Monate September bis Dezember halte das Unternehmen ein substanzielles Budget bereit, um nicht abgesetzte Kleidung der konventionellen Ladenketten-Konkurrenz zu übernehmen. „Ich gehe davon aus, dass momentan sehr große Überhänge an unverkaufter Ware in den Lagern liegen“, sagte Simon. Er bekomme „ständig Offerten“. „Hier können wir gezielt einspringen und anderen Anbietern als Absatzkanal helfen“, kündigte er an.

„Gamification“ des Verkaufsprozesses

Die börsennotierte US-Firma iMedia hat den bayerischen Teleshopping-Sender mit seinen rund 120 Mitarbeitern kürzlich übernommen. Interessant ist das deutsche Unternehmen für die Amerikaner vor allem wegen seiner ausgefeilten Technologie, Zuschauer am Verkaufsprozess durch die Versteigerung von Produkten aktiv zu beteiligen.

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iMedia-Chef Tim Peterman sprach gegenüber WELT von einer „Gamification“ des Verkaufsprozesses: „Die Technologie von 1-2-3.tv hat die Gamification des Teleshoppings erst ermöglicht. Wir werden sie in den USA in mehrfacher Hinsicht einsetzen“, kündigte er an. So sei die Einführung von Websites geplant, über die Kunden aktiviert werden sollen, Hotelzimmer, Flugtickets oder Eintrittskarten zu ersteigern. iMedia tritt damit in unmittelbare Konkurrenz zu Branchenriesen wie booking.com oder Expedia. Vorerst ist das Angebot allerdings nur für die USA geplant.

Die wirtschaftliche Krise in Europa bringt den Amerikaner nicht aus der Fassung, trotz des finanziellen Engagements in Deutschland. „Die derzeitige Situation ist herausfordernd, aber nicht einzigartig“, sagte er WELT. Generell sei dem Verkaufsfernsehen, seiner beruflichen und ökonomischen Heimat, immer schon ein baldiges Aus vorausgesagt worden: „Als ich vor 20 Jahren in der Branche anfing, hieß es: Das Fernsehen ist tot, und mit ihm stirbt euer Business Modell“.

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Doch das sei „offensichtlich nicht eingetreten“. Tatsächlich: Für das Jahr 2021 geht der deutsche Verband Privater Medien von gut 2,3 Milliarden Euro Gesamtumsatz aus. Zehn Jahre zuvor war es noch fast eine Milliarde weniger.

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