San Francisco Die Twitter-Zentrale in San Francisco war von Sicherheitskräften abgeriegelt. „Niemand darf rein“, sagte ein Wachmann dem Handelsblatt, während am Freitag tausende Mitarbeitende per E-Mail über ihre Kündigung informiert wurden. Rund jede zweite der 7.500 Stellen bei Twitter soll wegfallen.
Am Donnerstag merkten Mitarbeitende, dass ihre Firmenzugänge abgeschaltet wurden. Twitter-Angestellten im Homeoffice wurden Laptops per Fernzugriff deaktiviert. Wer noch in Büros am Arbeiten war, wurde von Sicherheitsdienst aufgefordert, nach Hause zu gehen.
Am Freitag begannen dann die Massenentlassungen. Gegen 9.00 Uhr Ortszeit in San Francisco wurden Mitarbeitende per Nachricht auf ihre private E-Mail-Adresse informiert, dass ihr Job gestrichen wird. Wer bleiben durfte, erhielt eine E-Mail auf die Dienstadresse.
„Es herrscht pures Chaos“, sagte ein ehemaliger Mitarbeiter dem Handelsblatt unter der Bedingung, seinen Namen nicht zu nennen. Er war in verantwortlicher Position für einen kritischen Teil der technischen Infrastruktur von Twitter zuständig. Nach acht Jahren bei Twitter hatte er das Unternehmen bereits kurz vor der aktuellen Entlassungswelle verlassen, aber weiter engen Kontakt zu seinen Kollegen gehalten.
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Die Entlassungen hätten so viele wichtige Bereiche von Twitter betroffen, dass ein reibungsloser Betrieb nicht mehr möglich sei. „Es wird massive Ausfälle bei Twitter geben. Die Frage ist nicht länger ob, sondern nur noch, wie schlimm es wird“, sagte der Fachmann. „Das ist ein Rezept für eine Katastrophe.“
Presseanfragen vom Handelsblatt bei Twitter liefen ins Leere, da auch die Ansprechpartner in der Pressestelle entlassen worden waren.
Seit der Übernahme durch Musk eine Woche zuvor, hatten laut Berichten aus Firmenkreisen vor allem zwei Weggefährten von Musk wichtige Rollen beim Umbau von Twitter übernommen: die Investoren David Sacks und Jason Calacanis.
Im Zuge eines Gerichtsprozesses um die 44 Milliarden Dollar schwere Twitter-Übernahme hatte Musk Textnachrichten offenlegen müssen. Daraus ging hervor, dass Sacks Musk in einer Checkliste für die Twitter-Übernahme geschrieben hatte: „Nutzlose Mitarbeiter feuern (50 %?)“. Calacanis hatte sogar den Abbau von 5.000 Stellen gefordert und geschrieben: „Tag Null... schärft eure Klingen Jungs.“
Calacanis schlug zudem vor, die Homeoffice-Regeln bei Twitter abzuschaffen. Das werde etliche Mitarbeitende dazu bewegen, freiwillig zu kündigen, vermutete er. Musk hatte wenige Tage nach der Übernahme bei Twitter eine Büropflicht eingeführt.
Musk und seinen Gefährten habe aber ein operativer Plan für die Übernahme gefehlt, sagte der ehemalige Twitter-Techniker dem Handelsblatt. „Sie haben nur Verwüstung angerichtet“, sagte er.
Niemand aus Musks Team habe sich die nötige Zeit genommen, die Prozesse bei Twitter zu bewerten. Dabei seien auch Techniker von Elon Musks E-Autobauer Tesla eingebunden gewesen. Sie hätten Mitarbeitende von Twitter angerufen und sie gebeten, die besten und schlechtesten Kollegen aus ihren Teams zu benennen.
Zudem seien die Programmierer zwischenzeitig aufgefordert worden, den Code, den sie während der letzten 30 Tage oder letzten 60 Tage geschrieben hatten, zur Bewertung auszudrucken. „Das ist natürlich völliger Irrsinn“, sagte der Softwareingenieur. Zuerst habe es Stau an den Druckern in der Twitter-Zentrale gegeben. Dann sei die Aktion wieder gestoppt worden. „Es gab keinen Plan. Alles wirkte irrational“, sagte er.
Anstatt sich bewusst zu entscheiden, einzelne Produkte von Twitter abzuschalten und die zuständigen Teams aufzulösen, sei das Unternehmen in seiner gesamten Handlungsfähigkeit gelähmt. „Selbst bei voller Besetzung und einem hochmotivierten Team kommt es bei riesigen Plattformen wie Facebook und Twitter zu Ausfällen“, sagte der Fachmann. Twitter sei nun nicht mehr in der Lage, rund um die Uhr die Sicherheit der Plattform zu gewährleisten.
Zudem sei die Moral unter den verbleibenden Mitarbeitenden am Boden. Das Handelsblatt erfuhr von Mitarbeitenden, die nicht von den Entlassungen betroffen waren, dass es keinerlei besondere Anreize gebe, für sie im Unternehmen zu bleiben. Ein weiterer Exodus von Fachkräften bei Twitter scheint wahrscheinlich.
Musk habe sehr enge Zeitfenster für die Entwicklung neuer Produkte vorgegeben. Ein neues Bezahlabo für 7,99 Dollar im Monat soll innerhalb weniger Tage fertig werden. Von Twitter-Produktentwicklerin Esther Crawford kursierte ein Foto, wie sie in einem Schlafsack im Twitter-Büro schlief. Sie kommentierte: „Wenn Ihr Team rund um die Uhr arbeitet, um Fristen einzuhalten, müssen Sie manchmal dort schlafen, wo sie arbeiten.“
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Während in San Francisco die Entlassungen bei Twitter ausgesprochen wurden, sprach Elon Musk in New York bei einer Investorenkonferenz. Twitter werde künftig eines der wertvollsten Internetunternehmen der Welt werden, kündigte er an. Allerdings hat Twitter während acht der vergangenen zehn Jahre einen Verlust gemacht.
Twitter-Mitarbeitende, denen am Freitag ihre Kündigung ausgesprochen wurden, erhielten unterschiedliche Ansagen über Abfindungsregeln. Das Handelsblatt erfuhr von einem Mitarbeiter in den USA, der informiert wurde, dass er noch weitere zwei Monate volles Gehalt beziehen wird, aber von seiner Arbeit freigestellt ist. Ein Mitarbeiter in Europa erhielt eine Nachricht, dass er vermutlich von der Kündigung betroffen sei, aber keine Details über Abfindungsregeln.
Sandra Sucher, Professorin für Management an der Harvard University, die sich seit mehr als einem Jahrzehnt mit Entlassungen befasst, sagte der New York Times, dass die Kürzungen bei Twitter zu den am schlechtesten gehandhabten gehörten, die sie je gesehen hat. Das Ausmaß sei zwar nicht beispiellos, aber es sei ungewöhnlich, dass Entlassungen so schnell durchgeführt würden, ohne dass den Arbeitnehmern detailliert erklärt werde, wer entlassen werde und warum, sagte sie. „Dies ist eine Meisterklasse darin, wie man es nicht machen sollte.“
Mehrere Twitter-Mitarbeitende hatten Klage gegen die Entlassungen eingereicht. Sie argumentierten, Musk habe sich bei der Massenentlassung nicht an geltende Gesetze in den USA gehalten.
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