Im Strafprozess um die milliardenschwere Pleite des Zahlungsabwicklers Wirecard sorgt ein Brief des untergetauchten Ex-Vorstands Jan Marsalek für Streit. Der international gesuchte 43-Jährige hat sich mit dem Schreiben seines Anwalts an das Landgericht München überraschend in den Prozess eingeschaltet und damit das erste bekannt gewordene Lebenszeichen seit rund drei Jahren gesendet.
Die Verteidiger des angeklagten früheren Chefs Markus Braun forderten in der Verhandlung am Mittwoch eine Nutzung des Briefs als Beweismittel zur Entlastung Brauns. Der Vorsitzende Richter Markus Födisch lehnte das jedoch fürs Erste ab. Es folgten laute Wortgefechte zwischen Brauns Anwälten sowie Richter und Staatsanwaltschaft.
Wirecard war im Juni 2020 zusammengebrochen, als aufflog, dass auf Treuhandkonten in Asien 1,9 Milliarden Euro fehlten. Die Pleite ist einer der größten Finanzskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte. Für das Asiengeschäft war Marsalek verantwortlich, der als führender Kopf bei Wirecard galt. Seine Spur verlor sich in Belarus. Später wurde er Medienberichten zufolge in Russland vermutet. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt gegen ihn. Sein Münchner Anwalt äußerte sich nicht.
Braun und zwei weitere Ex-Manager sitzen seit Dezember auf der Anklagebank. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Bilanzfälschung, Marktmanipulation, Untreue und Bandenbetrug vor. Sie sollen Milliardenerlöse von sogenannten Drittpartnern erfunden haben. Die Staatsanwaltschaft stützt sich auf Angaben des angeklagten Oliver Bellenhaus, der als Kronzeuge gilt. Braun und seine Anwälte haben dagegen erklärt, das Geld habe existiert und sei hinter Brauns Rücken von Marsalek und anderen beiseite geschafft worden.
»Als geläuteter Büßer nach Dubai«
Der Brief von Marsaleks Anwalt an das Gericht datiere auf den 6. Juli und sei von diesem an die Verteidiger weitergeleitet worden, sagte Brauns Anwalt Nico Werning. Marsalek lasse darin erklären, das Drittpartnergeschäft habe existiert und sei sogar nach der Wirecard-Insolvenz weiterbetrieben worden. Es habe sich »schlussendlich als widerstandsfähiger und auch krisenresistenter erwiesen« als der Mutterkonzern, zitierte Werning aus dem Brief.
Weiter erkläre Marsalek, dass Bellenhaus sich »als anpassungsfähiger Zeuge der Staatsanwaltschaft angedient hat mit dem Ziel, dadurch Ermittlungsmaßnahmen gegen seine Person zu reduzieren, um sich dann in Freiheit mit von ihm veruntreuten Firmengeldern in Millionenhöhe als geläuteter Büßer nach Dubai zurückziehen zu können«. Werning begründete mit diesen Zitaten seinen Beweisantrag, den gesamten achtseitigen Brief in dem Prozess zu verlesen.
Richter Födisch wollte das Dokument jedoch vorläufig nicht verwenden. Er begründete dies am Mittwoch nicht näher und kündigte eine Entscheidung zu einem späteren Zeitpunkt an. Brauns Anwälte protestierten, da Marsaleks Brief wesentliche Angaben zu Brauns Entlastung enthalte und in krassem Gegensatz zu den Aussagen des Kronzeugen Bellenhaus stehe.
»Diesen krassen Gegensatz kann ich schon mal gar nicht erkennen«, entgegnete Födisch. »Wollen Sie das Schreiben in der Schublade verschwinden lassen?«, rief Rechtsanwalt Alfred Dierlamm. »Sie bewegen sich sehr hart am Rande der Befangenheit.« Es folgten minutenlange Wortgefechte zwischen den Anwälten, dem Richter und Staatsanwältin Inga Lemmers, woraufhin Födisch die Sitzung vorübergehend unterbrach.
Ex-Vorständin: »Echtes Chaos«
Der Richter wandte sich anschließend der Vernehmung der früheren Produktvorständin und Zeugin Susanne Steidl zu. Die 52-Jährige ist das dritte frühere Vorstandsmitglied, das sich in dem Prozess äußerte – nach dem Angeklagten Braun und dessen Kurzzeit-Nachfolger James Freis, der als Compliance-Experte zu Wirecard geholt worden war und als Zeuge aussagte.
Steidl, gegen die die Staatsanwaltschaft separat ermittelt, antwortete stundenlang auf Fragen des Richters. Sie hatte sich als Produktmanagerin bei Wirecard hochgearbeitet und war gut zwei Jahre vor der Pleite in den dann vierköpfigen Vorstand befördert worden. »Ich war am Anfang sicher die Schwächste, die Neue«, sagte sie. Trotzdem habe sie sich bald herausgenommen, eine Erhöhung der Umsatzprognose durch Braun um 100 Millionen Euro intern zu hinterfragen. Später sei sie zu der Auffassung gelangt, dass Braun und Marsalek abgelöst werden sollten. »Ich hab schon gedacht, dass das ein rechtes Chaos war und wenig strukturiert, dass es frischen Wind braucht.« In das Drittpartnergeschäft habe sie keinen Einblick erhalten. »Das ist immer über den Jan Marsalek gelaufen.«
Marsalek ätzt über »anpassungsfähigen Zeugen der Staatsanwaltschaft« - DER SPIEGEL
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