Die Corona-Lage ist vertrackt. Die Zahl der Neuinfektionen steigt, weil wieder mehr Kontakte in Innenräumen stattfinden und weil das öffentliche Leben und das Reisen viel normaler laufen als in den vorhergehenden Wellen. Diese Offenheit ist durchaus zu rechtfertigen, denn trotz zunehmender Inzidenz halten sich die Hospitalisierungsquoten und die Sterbefälle noch in Grenzen.
Der bisher vergleichsweise milde Verlauf hängt vor allem mit den Impfungen zusammen, die verlässlich schützen. Zugleich gilt aber: Die Quote der Geimpften stagniert, und selbst Geimpfte können sich anstecken und infektiös sein. Auch die Impfdurchbrüche nehmen zu, sodass eigentlich Immunisierte trotzdem Symptome entwickeln. Gefahren lauern vor allem für alte Menschen und für Vorerkrankte.
Um diese Gruppen zu schützen, sind Auffrischungsimpfungen sinnvoll, in der Regel eine dritte Spritze oder im Falle des Vakzins von Johnson & Johnson eine zweite. Dafür gibt es genügend Dosen und auch ausreichend Personal, Impfteams etwa, niedergelassene Ärzte, in Einzelfällen noch Impfzentren. Fast 15 Prozent der gelieferten Impfdosen, das sind 20 Millionen Stück, liegen auf Lager.
Und doch kommt das sogenannte „Boosting“ nicht voran. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) sind seit Beginn der Kampagne im September erst 1,6 Millionen Auffrischungen verabreicht worden. Mit derzeit etwa 36.000 am Tag dürften es bis Ende Oktober etwa 1,8 Millionen Spritzen werden, also 900.000 im Monat. Das ist viel weniger als erwartet: Das Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung ZI hatte von September bis Jahresende mit 10 bis 10,5 Millionen Fällen gerechnet, also mit mindestens 2,5 Millionen im Monat. Auch das Bundesgesundheitsministerium teilte am Dienstag mit, der infrage kommende Personenkreis belaufe sich auf 10 bis 13 Millionen.
Was vielen nicht bewusst sein dürfte: Schon jetzt kann jeder, der mindestens 12 Jahre alt ist und dessen Impfung lange genug zurückliegt, eine Auffrischungsimpfung erhalten. Die Ständige Impfkommission – die STIKO beim RKI – sowie die Gesundheitsminister der Länder haben zwar bislang lediglich Empfehlungen für bestimmte Risiko- und Berufsgruppen ausgegeben, doch diese Empfehlungen sind nicht bindend. Die Rechtsgrundlage ist nämlich die Corona-Impfverordnung aus dem Bundesgesundheitsministerium.
Und die ist in Sachen Auffrischungen so geändert worden, dass sich jeder, der zur Grundimpfung berechtigt ist, auch eine Folgeinjektion geben lassen kann. Explizit spricht Paragraf 2 davon, dass der allgemeine Rechtsanspruch auf Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 auch „Folge- und Auffrischimpfungen“ umfasse. Einzuhalten sind lediglich die von der STIKO empfohlenen Impfabstände.
Ein Ministeriumssprecher machte am Dienstag klar: „Laut Impfverordnung ist für alle, deren Impfung länger als sechs Monate zurückliegt, eine Auffrischungsimpfung möglich. Auch für sie ist Impfstoff vorhanden.“ Damit ist klargestellt, dass die Ärzte jedermann drittimpfen können, dass die Kosten übernommen werden und dass auch die Staatshaftung für mögliche Impfschäden vollständig gilt.
Und zwar unabhängig von den STIKO-Empfehlungen und davon, ob für die Auffrischungen eigene Zulassungen der Europäischen Arzneimittelagentur EMA vorliegen. Sowohl BioNTech als auch Moderna haben diese Genehmigung zwar erhalten. Sie sei aber „nicht zwingend nötig und vor allem ein Marketinginstrument“, heißt es in Berlin.
Risikogruppen sollten Booster-Impfung wahrnehmen
Die eher zurückhaltenden Booster-Empfehlungen der Bundes- und Landesregierungen zielen darauf, zuallererst eine abermalige tödliche Corona-Welle unter Alten und Schwachen zu vermeiden. Diese Risikogruppen sind zwar überwiegend geimpft, die Antikörper gegen das Virus können aber nachlassen. Deshalb haben die Ressortverantwortlichen wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) oder sein bayerischer Kollege Klaus Holetschek (CSU) die gefährdeten Personen dazu aufgefordert, sich zweit- beziehungsweise drittimpfen zu lassen.
Die Politiker können sich dabei auf die Beschlüsse der Gesundheitsministerkonferenz stützen, die das Boosting inzwischen einer recht großen Gruppe aktiv anbieten: Bewohnern und Mitarbeitern in Pflege-, Behinderten- und Obdachlosenheimen, medizinischem und Rettungspersonal sowie allen über Sechzigjährigen, die das in Absprache mit ihrem Arzt wünschen.
Auch denjenigen, die bisher einen Vektorimpfstoff von AstraZeneca oder Johnson & Johnson (J&J) erhalten haben, wird eine Auffrischung unabhängig vom Alter aktiv angeboten. Nachgeimpft wird nur mit den mRNA-Vakzinen von BioNTech/Pfizer und Moderna. In der Regel soll in allen genannten Fällen der Abstand zum vorhergehenden Vollschutz sechs Monate betragen, bei J&J soll die „Optimierung der Grundimpfung“ aber schon nach vier Wochen erfolgen.
Die STIKO trägt nicht alle Empfehlungen mit, wohl aber das Boosting für über Siebzigjährige, für Pflegeheimbewohner, für pflegerisches und medizinisches Personal, für die J&J-Geimpften und für Immungeschwächte. Personen mit schwerer Immundefizienz (ID) von 12 Jahren an sollen schon vier Wochen nach der Grundimmunisierung eine Auffrischung erhalten.
Ärztevertreter warnen unterdessen vor einem „Run“ auf die Drittimpfungen. „Die Inzidenzen steigen, die Politik darf deshalb allerdings nicht in Aktionismus verfallen, sondern muss sich weiterhin an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren“, sagte Klaus Reinhardt, der Präsident der Bundesärztekammer, der F.A.Z. Er meint damit die STIKO-Ratschläge. Die seien eindeutig und begrenzt: „An diese Empfehlung sollten wir uns halten. Besonders wichtig ist es jetzt, mit einer durchschlagenden Auffrischungskampagne alle relevanten Zielgruppen zu erreichen.“
Jeder ab 12 Jahre hat Anspruch auf die Booster-Impfung - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Read More
No comments:
Post a Comment